In 24 Tagen ist Weihnachten.
Ab heute öffnet sich Tag für Tag ein Türchen. 24 Überraschungen, 24 Mal staunen – in den von uns begleiteten Familien gibt es täglich viele Überraschungen. Schöne – wie auch weniger schöne. Dinge die sich einfach nicht planen lassen. Dies hat uns dazu inspiriert einmal 24h einer Familie zu begleiten. Jeden Tag bis Weihnachten geben wir ab heute exemplarisch für eine Stunde einen Einblick in den Alltag einer Familie mit einem schwerkranken Kind.
00.00 – 01.00 Uhr
Ich bin müde. So unendlich müde. Mir graut es jetzt schon vor dem frühen Klingeln des Weckers – wenn mich meine Gedanken nicht ohnehin von selbst aufwachen lassen.
Aber jetzt noch die Schulbrote machen, die Wohnung aufräumen – wenigstens das Gröbste, den Geschirrspüler – alles was morgen früh nicht anfällt hilft.
Eigentlich wollte ich mit meinem Mann Frank noch die Woche besprechen. Ich höre vom Sofa her sein sonores Schnarchen. Es ist wieder so spät geworden. Über den ganzen Stress in der Arbeit konnte er heute auch nicht sprechen. Vielleicht morgen. Heute hatte unser Kleiner einfach keinen guten Tag. Sie haben so lange gebraucht bis Felix eingeschlafen ist und nun schläft auch der Papa. K.O. – ich auch, hoffentlich schlafe ich auch bald, wenn hier alles mal erledigt ist…
01.00 – 02.00 Uhr
Ich liege im Bett – wunderbar.
Gerade noch so müde, kreisen jetzt meine Gedanken. Was steht morgen alles an? Muss noch etwas organisiert werden? Habe ich gar etwas vergessen? Irgendwas war doch da noch…
Warum war Alexander heute nur so quengelig – er wird hoffentlich nicht krank. Bei dem Gedanken wird mir ganz anders – bitte nicht. Bitte einfach nur schlechte Laune. Morgen ist der Tag an dem wir ohne Kinderkrankenschwester auskommen müssen – das wäre einfach nicht zu schaffen. Ich habe mir so viel vorgenommen.
Ich beruhige mich – versuche es – es wird schon nichts sein. Weil nichts sein darf. Ich muss jetzt auch mal schlafen – endlich etwas schlafen.
Was war das nur – irgendwas wollte ich noch tun…
02.00 – 03.00 Uhr
…fest schlafe ich nicht. Wohl auch noch nicht lange. Als ich merke das Felix neben mir unruhig wird. Ein Geräusch macht mich gänzlich wach. Jetzt ist es gewiss – nicht nur ein schlechter Tag. Felix hat sich übergeben. Jetzt muss ich auch Frank aus dem Schlaf holen. Felix ist mit seinen 12 Jahren schon so groß und schwer, dass ich das Bett nicht alleine wechseln kann.
Er ist nicht heiß – nur warm, Bettwärme. Kein Fieber hoffe ich. Frank übernimmt. „Schlaf, wenigstens noch ein wenig – wir wechseln uns ab.“ Ich habe es mir abgewöhnt zu widersprechen – kann ich auch gar nicht – eigentlich bin ich sogar froh und dankbar, dass Frank übernimmt, aber zum triumphieren fehlt mir die Kraft. Die brauche ich auch noch – für morgen. Ich schlurfe zurück ins Bett und bevor die Sorgen mir weiteren Schlaf rauben falle ich in selbigen…
Schönen ersten Advent euch.
03.00 – 04.00 Uhr
Frank liegt bei Alexander – mehr wach als schlafend. Jede Regung nimmt man wahr. An Schlaf ist nicht wirklich zu denken. Alexander kommt einfach nicht zur Ruhe.
„Schlaf“ flüstert Frank ihm ins Ohr und streichelt ihm durchs Haar im Glauben Alexander könne sich etwas erholen und der Hoffnung auch selbst noch etwas Schlaf zu finden. Beides gelingt nicht.
Schichtwechsel. Sprachlos und wie automatisch angetrieben tauschen wir die Seiten. Ich muß ja nur daheim funktionieren, aber Frank in ein paar Stunden wieder im Büro. Mittlerweile funktioniert das so – es gab auch andere Zeiten. Ich war oft wütend, weil alles an mir hingen blieb – so gerne wäre ich auch einfach jeden Morgen ins Büro gefahren und hätte das alles hinter mir gelassen. Der Alltag hat uns manchmal zermahlen wie Getreide zwischen zwei überdimensionalen Mühlsteinen und spröde, voller Vorwürfe für den anderen zurück gelassen.
Zeitweise haben wir uns einfach nicht mehr verstanden, konnten Reaktionen nicht nachvollziehen. Haben uns nicht mehr gesehen. Auch so eine Sache – ich hätte niemals gedacht, dass wir für unsere Ehe Hilfe bräuchten. Schon gar nicht, dass ich diese annehmen kann. Wir waren wie ein Fels in der Brandung. Bis plötzlich alles, aber auch wirklich alles anders war.
Wir haben uns neu sortiert, neu aufgestellt, neu ausgerichtet – es war harte Arbeit und wir arbeiten weiter, damit wir nicht zerbrechen.
04.00 – 05.00 Uhr
Kein Fieber – nur knapp über 38. Das schreckt mich erst einmal nicht. Zum Glück denke ich – hoffentlich etwas harmloses, was sich schnell wieder verabschiedet.
Während ich an Alexander gekuschelt liege und er doch wieder eingeschlafen ist trauere ich – ich trauere den letzten Wochen hinterher. Fast 3 Monate war alles stabil, kein Infekt, kein ernster Zwischenfall, kein Anfall. Die Tage waren fast planbar.
Wir haben schöne Dinge gemacht. Die Erinnerungen daran zaubern mir ein Lächeln aufs Gesicht. Wir waren am Wochenende sogar im Zoo. Alle gemeinsam. Sogar Mathilda war dabei, die große Schwester, die den Zoo schon so uncool findet. Alexander liebt Affen. Richtig aufgeregt war er und hat die Tiere beobachtet, hat gelacht, die Augen weit aufgerissen und war ganz ruhig und konzentriert, wenn einer an die Scheibe kam.
Mein wunderschönes Kind. Ich liebe dich, ich liebe dich von ganzem Herzen. Daran ändert nichts etwas – nicht der Schlafmangel, nicht die Probleme, nicht die Angst, nicht die vielen neuen Herausforderungen, die sich seit der Diagnose so nacheinander bei uns vorstellen.
Es sind diese Momente in denen wir die Sorgen fast vergessen. Wenn wir Zeit miteinander verbringen, Zeit die auch du ganz bewusst erlebst und Erlebnisse die uns alle prägen. Denn was auch kommt. Jetzt sind wir hier, jetzt sind wir zusammen, jetzt leben wir und jetzt erleben wir. Und Morgen? Morgen ist ein anderer Tag…
05.00 – 06.00 Uhr
Ich finde nicht mehr wirklich in den Schlaf zurück und döse. Was steht heute alles an?
Alexander muss daheim bleiben – nicht, dass es schlechter wird. Ich muss die Schule anrufen. Mathilda hat heute ihr Konzert. Klavier – sie spielt seit sie 6 Jahre alt ist. Wie schaffe ich es jetzt nur hinzugehen, wenn Alexander nicht betreut ist. Ich werde versuchen, ob doch eine Krankenschwester einspringen kann. Das Konzert – oh nein, jetzt fällt mir ein was ich vergessen habe – Mathilda möchte ihr blaues Kleid anziehen, das wollte ich noch bügeln. Ich stehe auf – mehr schlafend als wach taumel ich ins Bad. Was ich im Spiegel sehe gefällt mir nicht. „Du siehst ganz schön geschafft aus“ sage ich und lächle mir selbst ins Gesicht. Nebensächlich wie ich aussehe. Nebensächlich wie müde ich bin. Das Bügeleisen will jetzt über Mathildas Kleid tanzen. Mit guter Laune erträgt man vieles leichter. Ich bemühe mich – denn es stimmt und die Schwere raubt einem nur unnütz Kraft und es bringt ja auch nichts – es muss alles erledigt werden. Zur Krankenkasse wollte ich gehen – auch den Termin muss ich nun verschieben. Ich werde unsere Koordinatorin ohnehin noch einmal anrufen müssen, ob sie uns bei dem Antrag für den neuen Rolli behilflich sein kann. Alexander wächst und wächst. Wie fern der Realität die für uns möglichen Leistungen sind – ich bin oft sprachlos, hilflos und dann auch einfach wütend. Dieser Antragskram ist überhaupt nicht mein Ding – alles möglichst kompliziert und unverständlich. 1000 Dinge muss man beachten, dabei habe ich dafür überhaupt keine Zeit – und keinen Nerv mich da stundenlang einzulesen. Zum Glück habe ich dabei Hilfe. Einkaufen muss ich heute unbedingt. Ach wäre dies schön gewesen, dass mal in Ruhe zu erledigen – jetzt weiß ich gar nicht wie ich das anstellen soll. Naja, jetzt erst mal eins nach dem anderen. Mathildas Kleid. Dann beginnt ohnehin schon der Tag.
06.00 – 07.00 Uhr
Der Wecker klingelt. Ich laufe schnell ins Schlafzimmer und schalte ihn aus, damit Alexander noch etwas schlafen kann. Schule wird ja heute nichts. Frank hingegen rüttel ich aus dem Bett – er muss sich beeilen. Ich wecke Mathilda – eigentlich hatte sie am meisten Schlaf, aber sie kommt kaum aus dem Bett. Ich sehe sie mir an – mein verschlafenes großes Mädchen. 14 Jahre ist sie nun und ganz schön pubertär. Ich habe viel Verständnis, denn oft fiel sie einfach hinten runter in den letzten 5 Jahren. Nach wochenlangen Klinikaufenthalten haben wir uns fast ausschließlich um ihren kranken Bruder gekümmert. Ich bin so froh, dass diese Zeiten vorbei sind. Nun sind wir wenigstens daheim – auch wenn daß manchmal neue Herausforderungen mit sich bringt.
Oft komme ich gar nicht mehr an sie ran, ich frage mich dann ob ich etwas verpasst habe, sie zu kurz gekommen ist – immer diese Frage nach der Schuld und die Hoffnung alles richtig zu machen. Ein Mamasyndrom. Ich versuche mein Bestes zu geben und manchmal kann ich das einfach nicht leisten, weil so viel ansteht. Mathilda ist ganz schön schnell groß geworden. Die Diagnose ging auch an ihr nicht spurlos vorüber und auf einmal war das Kind erwachsen – sie hat sich stark verändert in der ersten Zeit, ist sehr viel ernster geworden, aber auch stiller. Die ganzen Erlebnisse der letzten Jahre haben uns aber auch so stark gemacht – ich habe manchmal das Gefühl, dass wir richtig fest zusammen geschweißt wurden und uns das auch ganz viel Kraft gibt zusammen alles zu meistern. Manchmal wirkt es aber auch nicht so gut – wie in dem Moment in dem ich Mathilda sage, dass Alexander kränkelt, er nicht zur Schule kann und ich nicht weiß, ob ich es zu ihrem Konzert schaffe. Enttäuschung. Tränen steigen ihr in die Augen. Ich nehme sie fest in den Arm. „Nicht traurig sein, ich werde es versuchen doch irgendwie zu kommen“. Sie nickt verständnisvoll und versucht sich zusammen zu reißen, damit die Tränchen nicht aus ihren Augen rollen – sie weiß wie weh mir das tut sie so zu sehen. „Schon gut Mama, dann spiele ich für Alexander und dich das Konzert einfach heute Abend zuhause nochmal.“ Sie tut mir noch immer leid und jetzt fast noch mehr – so ein vernünftiges Mädchen. Sie trägt es so tapfer mit.
„Schönen Tag“ ruft es noch hastig aus dem Flur und dann ist Frank auch schon aus der Tür. Er hat heute einen wichtigen Termin und nach der unruhigen Nacht wird er die morgendliche Ruhe im Büro für die Vorbereitung nutzen. Morgens ist die Zeit immer zu knapp – heute sogar für einen richtigen Abschied.
07.00 – 08.00 Uhr
Mathilda ist nun auch aus dem Haus. Kurz einmal durchatmen. Der hektische Morgen ist so weit geschafft. Nun muss ich Alexander versorgen. Ihm einen Frühstücksbrei machen, damit er sein Frühstück auch zu sich nehmen kann. Da klingelt das Telefon. Eine Freundin die irgendwie mehr zu einer Bekannten geworden ist. Ich freue mich, dass sie anruft und denke im gleichen Moment wie unpassend es leider gerade ist. Die Wäsche ist noch nicht fertig, Alexander braucht sein Frühstück… Egal, wenn sich schon mal jemand meldet, werde ich sie nun auch nicht abwürgen. Sie sitzt im Auto, im Stau zur Arbeit und als sie an einem Café vorbeifährt (in dem wir früher regelmäßige Treffen hatten) musste sie an mich denken. „Wenn nicht jetzt wann dann, dachte ich mir“ erklärte sie den morgendlichen Anruf. Danach folgten mindestens 10 Sätze der Entschuldigung, warum sie sich nicht mehr gemeldet hat, dass sie früher auch mindestens einmal wöchentlich zu Besuch kam verschwiegen wir in diesem Entschuldigungsmarathon. Es gab natürlich viele Erklärungen. Neue Position im Job, viel unterwegs – so viel zu tun. Damit sie sich nicht noch mehr ausdenken musste unterbrach ich mit einem „Alles gut, ich freue mich sehr, dass du jetzt anrufst.“
Dann hielt sie weiterhin einen Monolog, als traue sie sich gar nicht Fragen zu stellen aus Angst vor den Antworten. Sie erzählte eine Menge belanglose Dinge aus ihrem Alltag und ich hörte zu. Sagte mal etwas wie „Oh, ja“, „Aha“ und ähnliches. Wie sich unsere Leben verändert haben dachte ich. Was sie alles erzählte – so unwichtig, dachte ich. Ich wäre froh nur Stress in der Arbeit zu haben, ich wäre froh nur im Stau zu stehen, es wäre schön, wenn mich irgendwelche Leute nerven mit ihrem Besuch – es kommt ja keiner mehr. Gleichzeitig dachte ich mir, was bist du ungerecht. Du bewertest ihre Probleme abschätzig als belanglos, dabei sehnst du dich einfach nur nach diesen Belanglosigkeiten. Dennoch kränkte es mich, dass sie nicht einmal fragte, wie es Alexander geht, wie es mir geht. Bei der nächsten Atempause unterbrach ich sie und sagte „Ich kann dich gut verstehen – ich hatte so eine scheiß Nacht und habe kaum geschlafen. Alexander…“ Sie fiel mir mitten ins Wort und unterbrach mich. „Du, jetzt geht’s hier weiter – wir müssen uns mal sehen. Ist wahrscheinlich schwierig bei dir, aber ich schreib dir mal und dann machen wir etwas aus.“
Was war das denn, fragte ich mich nach dem wir aufgelegt haben. Wollte sie jetzt einfach mal ihr Gewissen beruhigen und sich mal wieder melden und dann bemerkte sie, dass sie sich da überschätzt hatte, weil ihr es eigentlich doch zu viel wäre wirklich zu erfahren wie es uns geht? Ich war verwirrt und auch ein wenig gekränkt. Ich weiß, dass nicht jeder mit unserem Schicksal umgehen kann – ich erwarte das auch gar nicht. Ja, ich kann es ja manchmal sogar gut verstehen. Ich kann nicht einfach weggehen und mich irgendwann mit einer Entschuldigung wieder melden – aber ich ertrage es manchmal auch kaum. Noch weniger aber ertrage ich es, wenn mein Umfeld wegbricht, wenn sich Freunde immer weniger melden und sogar Familienangehörige auf einmal nur noch sehr selten zu Besuch kommen. Das schmerzt.
08.00 – 09.00 Uhr
Bevor Alexander aufwacht noch schnell duschen – ich fürchte schon, dass ich das nicht mehr schaffe, aber Mathilda wäre jetzt wenigstens noch da. Und wie sie da ist – das Bad ist verschlossen. Zu spät, denn das kann jetzt dauern.
Dann erledige ich schnell das Notwendigste. Ich sage dem Fahrdienst ab, entschuldige Alexander in der Schule. Bevor ich den Pflegedienst anrufe, entscheide ich mich erst einmal zu sehen wie es meinem Kleinen jetzt geht. Ich höre ihn schon, aufgewacht, gelangweilt, er will aus dem Bett. Ein kleiner Morgenmuffel ist er immer, aber sonst denke ich mir sieht er ganz gut aus. Kein Fieber, das ist das erste was ich fühle. Er wirkt etwas schlapp, aber es war ja auch eine sehr kurze Nacht. Ich hoffe es war wirklich nur eine kurze Verstimmung. Wenn Alexander erkrankt kann es sich ziehen, Komplikationen können auftreten und den Gesamtzustand erheblich verschlechtern – also hoffe ich dass es sich nicht so entwickelt.
Ich bette ihn um aufs Sofa. Was für ein Kraftakt – erst aus dem Bett in den Therapiestuhl, von dem dann auf das Sofa. Und Alexander ist so schwer. Ich scherze: „Du bist so faul, alles lässt du mich machen und machst einfach nicht mit – Unverschämtheit.“ Alexander lächelt. Ich mache diese Scherze, andere dürfen das nicht. Manchmal hilft dieser Humor ungemein mit der eigentlich zermürbenden Realität besser umzugehen.
Die ganze Wäsche hat sich von der Nacht und gestern aufgetürmt und ich stopfe sie in die Waschmaschine, während ich durch die Wohnung schreie Mathilda möge sich beeilen. Sie hätte eigentlich schon losgehen müssen. In der Hoffnung durch die Badtür in ihre morgendliche Teenagerroutine zu durchdringen rufe ich noch 2,3 Mal und ergänze dabei alles, was sie heute nicht vergessen darf. Für alle mitdenken – das ändert sich nicht. Trotz des deutlich volleren Alltags und der vielen neuen Dinge die hinzugekommen sind – ich denke mit, für alle.
09.00 – 10.00 Uhr
Alexander wird total unruhig. Mist – ich bin viel zu spät dran mit dem Frühstück. Jetzt aber schnell. Aus dem Kühlschrank glotzt mich die gähnende Leere an. Ich kam einfach noch nicht zum Einkaufen und wann und wie ich es heute schaffen soll ist mir gerade noch ein Rätsel.
Jetzt heißt es erfinderisch sein – aber meine Kreativität bewegt sich gerade eher gegen Null. Also zaubere ich etwas, was schnell geht und mit den wenigen verfügbaren Zutaten möglich ist – Alexander dankt es mir entsprechend. Er isst kaum etwas und spuckt mehr aus, als er für sich behält. Es ist ja auch keine kulinarische Meisterleistung, aber wenn er satt werden soll muss ich jetzt geduldig bleiben und das kann jetzt dauern. Ich füttere ihn also Löffelchen um Löffelchen und muss mich zusammenreißen nicht ungeduldig zu werden.
Die Wäsche ist noch immer nicht gemacht. 11.00 Uhr kommt die Therapeutin und ich, ich sitze hier noch immer im Schlafanzug. Also gar nicht so leicht geduldig zu bleiben, aber ich habe auch nicht wirklich eine Wahl. Wie so oft – das muss jetzt sein und egal was noch so ansteht es wird sich nicht beschleunigen lassen. Im Gegenteil – werde ich jetzt noch gestresst klappt es mit dem füttern gar nicht mehr.
Fast eine Stunde braucht es, bis ich erschöpft aufgebe in der Hoffnung, dass es genug ist für die nächsten paar Stunden. Im Schlafanzug springe ich in die Küche um aufzuräumen – mal wieder. Ich habe das Gefühl Wäsche und dreckiges Geschirr wächst in diesem Haus unaufhörlich und in rasanter Geschwindigkeit nach. Habe ich den einen Berg beseitigt, drehe ich mich kurz um und Schwupps – steht ein neuer da. Nicht umsonst hat unsere Waschmaschine sogar einen eigenen Namen. Jetzt schaffe ich es auch endlich sie mit Waschmittel zu bestücken und endlich auf den Startknopf zu drücken – wieder etwas geschafft. Etwas von den vielen Dingen die heute alle noch zu tun sind.
10.00 – 11.00 Uhr
Es klingelt an der Tür. Das kann nur die Post sein. Toll, ich noch immer im Schlafanzug habe ich keine große Lust die Tür zu öffnen. Ich schaue durch den Spion. Unser freundlicher Briefträger lacht mir entgegen. „Bitteschön – es war heute so viel, da dachte ich, ich bringe es ihnen rauf.“ Ich lächle gequält zurück und klemme mich etwas verschämt hinter die Tür. Nicht dass er denkt, ich bin gerade erst aus dem Bett gefallen – er kann ja nicht ahnen was ich heute schon alles hinter mir habe.
Mir ist es leider noch immer nicht egal was andere denken – wobei es wirklich meistens absolut egal ist, weil sich ihre Gedanken nur auf ihre Erfahrungen stützen und sie eben gar keine Ahnung haben, was bei uns alles so läuft. Aber an gewisse Dinge gewöhnt man sich dann doch nicht so einfach.
Ich schaue schnell über die Absender der Briefe. Viel Post ist meist kein gutes Zeichen. Rechnung, Rechnung, Werbung, Krankenkasse…den Rest leg ich erst einmal beiseite.
Ich hoffe der Antrag für Alexander wurde genehmigt. Ich reiße den Brief schnell auf und falte das Schreiben auseinander. Auch das gibt man nicht auf – die Hoffnung, dass einfach auch mal etwas läuft, ohne Ärger, ohne zusätzliche Mühe, ohne Frust – einfach so. Sie brauchen das, na klar macht Sinn – bei dieser Diagnose. Kein Problem, ihr Antrag wurde genehmigt. Ironie, Sarkasmus – manches übersteht man nur so.
Der Antrag wurde abgelehnt.
Nun folgen die üblichen Schritte. Beraten lassen, Widerspruch einlegen, kämpfen. Ständig ist das alles ein Kampf. Wer nicht die Kraft hat zum Kämpfen, wer nicht gut beraten ist, der bleibt auf der Strecke. Es ist so oft so mühsam – an Stellen, an denen es nicht mühsam sein müsste, an Stellen, um die man sich eigentlich nicht auch noch kümmern kann.
Kümmern, nun muss ich mich erst einmal um Alexander kümmern. Keine Zeit sich den Kopf zu zerbrechen.
11.00 – 12.00 Uhr
Es klingelt an der Tür – die Zeit ist mir davon gerannt. Wieder einmal. Ich öffne der Therapeutin – im Schlafanzug. Ich entschuldige mich – Wieder einmal. Zum Glück kennen wir uns schon seit ein paar Monaten und sie weiß um unsere Situation. Es ist die schönste Stunde der Woche für Alexander, wenn unsere Hundetherapeutin mit ihrem Hund zu uns kommt. Er liebt Tiere und wenn er mit dem Hund spielen darf ist er sichtbar glücklich. Da es ihm nicht schlechter ging am Vormittag, habe ich dieses schöne Erlebnis auch nicht abgesagt. Ein zusätzlicher Faktor, der gerade nicht unerheblich ist – ich habe nun ein paar Minuten gewonnen für mich in denen ich duschen und mich anziehen kann. Die Wäsche aus der Maschine holen, diese aufhängen und das Mittagessen vorbereiten werde. Die Post gehört noch fertig durchgesehen und Telefonate gemacht. Mir ist fast klar, dass ich nicht alles schaffen kann in dieser einen Stunde. Das wäre aber das was ansteht und um nicht den Überblick zu verlieren gehe ich alles im Kopf durch und werde versuchen so viel wie möglich davon zu erledigen. Ich bin ein echter Profi darin geworden Zeit effizient zu nutzen. Brauchte ich früher mindestens 30 Minuten im Bad bin ich heute in 15 Minuten komplett fertig und angezogen.
Ich höre Alexander aus dem Wohnzimmer glucksen – er freut sich. Ich stelle den Wäschekorb ab und gehe zu ihnen – dieser ehrlichen und unverblümten Freude kann ich nicht widerstehen. Ich sehe ihnen zu. Der Hund stupst Alexanders Arm mit der Schnauze nach oben – Alexander macht dies sicht- und hörbar Spaß. Sie liegen nebeneinander, die Therapeutin leitet ein wenig an. Es ist so friedvoll, so voller Leben diese Situation – mein Junge ist einfach glücklich. Sein Glück springt auf mich über, ich halte inne und genieße diesen Moment. Ich bleibe in diesem Moment und nur dieser zählt jetzt. Vergesse, was ich alles in diese Zeit stopfen musste und erledigen wollte – jetzt ist nur dieser Moment wichtig und ich genieße ihn zusammen mit meinem Kind. Dieser Moment legt sich wie Honig über meine ganze Seele und beruhigt mich. Ich bin da, ganz jetzt und hier – nicht bei der Wäsche, nicht drei Schritte weiter, nicht bei dem was noch zu tun ist – ich bin hier und das fühlt sich so gut an.
12.00 – 13.00 Uhr
Schon ist es wieder Zeit für das Mittagessen. Gefühlt bin ich gerade aufgestanden und der Vormittag ist einfach so weg. Leider ist die gähnende Leere im Kühlschrank nicht auf wundersame Weise aufgefüllt worden. Also stehe ich erneut vor der Herausforderung, was ich Alexander koche. Ich schaue in den Kühlschrank, als würden meine Blicke, wenn ich sie nur lange genug auf die leeren Glasboden richte, etwas Neues ergeben. Leider kommt da aber nichts. Eine halbe Zwiebel, 1 Salatkopf, 2 Eier, etwas Milch, Senf…das wird nichts.
Mit mehr Hoffnung etwas im Gefrierfach zu entdecken, das mir einfach entfallen ist, öffne ich die Schubladen. Tatsächlich – ich habe noch etwas portionierte Fischstäbchen mit Kartoffelpüree. Bereits fein zerkleinert – ich muss es nur in der Mikrowelle erhitzen. Manchmal ist das Gold wert, wenn man sich einfach etwas Zeit sparen kann. Am liebsten möchte ich immer frisch kochen, gesund, möglichst vor Nährwerten strotzend. Ehrlich gesagt schaffe ich das aber nur selten – es ist ein großer Aufwand, braucht viel Zeit – zumal ich für Alexander ja alles noch zerkleinern muss. Meistens bin ich leider äußerst knapp dran und froh, wenn es dann schnell geht, weil Alexander schon proteststark sein Essen einfordert. Das Füttern kann doch gut und gerne noch einmal so lange dauern – das im Alltag zu integrieren ist zeitlich oft gar nicht möglich. Oder mir fehlt die Geduld. Oder mir fehlt die Muße. War kochen früher ein Hobby ist es mittlerweile oft sehr zweckmäßig und nötig geworden – oft tatsächlich auch ungeliebte Routine die einfach sein muß. Bis 13.00 Uhr sollte ich eigentlich auch fertig sein. Dann kommt eine Unterstützung von der Nachbarschaftshilfe. Tim – ein junger engagierter und mit Alexander sehr einfühlsamer Helfer. Er liest ihm vor, spielt mit ihm – auch das ist eine tolle Unterstützung, an einem Tag wie heute, wo keine Schule sein kann und keine Krankenschwester kommt. Leider wechselt er sein Studium und zieht nach Berlin – das wird uns fehlen. Mir die Unterstützung. Alexander der lustige Zeitvertreib. Ersatz ist leider nicht in Sicht. Ich weiß auch nicht, ob ich einen Ersatz will bzw. jemand Tim überhaupt ersetzen kann.
So viele Menschen gehen bei uns ein und aus. Manchmal habe ich schon das Gefühl, es ist gar kein Zuhause mehr. Natürlich helfen uns alle – aber es ist auch nicht einfach. Gerade der Pflegedienst wechselte oft, so dass man sich immer wieder neu auf erst einmal fremde Menschen einlassen muss. Diese kommen dann eben auch in unsere Wohnung – damit geht die Wohnung als privater Rückzugsort irgendwie auch verloren. Aber man gewöhnt sich auch daran – auch wenn ich mich manchmal nach einem Ort nur für mich ganz allein sehne. Das Schöne ist, dass mit diesen Menschen auch viel Neues in unser Leben kommt – viele Erfahrungen. Jeder bringt etwas mit, jeder etwas anderes. Ich sehe dies mittlerweile als Geschenk. Ein Geschenk einer Vielfalt, die ich ohne Alexander wohl niemals kennen gelernt hätte.
13.00 – 14.00 Uhr
Mathildas Konzert beginnt. Gerade jetzt steht sie in der Aula der Schule auf der Bühne und spielt ihr erstes Schulkonzert mit einem Solostück am Klavier. Sie ist sicher wahnsinnig aufgeregt und nervös. Alle Augen sind jetzt auf sie gerichtet. Außer meine. Wieder einmal muss sie das ganz alleine bestreiten. Ich kann nicht für sie da sein und vor Stolz platzen. Eine Träne rinnt mir die Wange hinunter. Es ist alles andere als leicht allem und allen gerecht zu werden. Ich wäre so gerne bei ihr, würde ihrem Spiel lauschen, die anderen Zuschauer beobachten und meinem Sitznachbarn stolz zuflüstern, dass das mein Kind ist, was da so wunderbar spielt. Ich würde aufstehen für den Applaus und wahrscheinlich auch weinen – aber vor Rührung, vor Glück. Jetzt verdrücke ich mir weitere Tränen, weil sie mir einfach unendlich leid tut, dass niemand von ihrer Familie anwesend ist und ihr Konzert anhören kann.
Ich setze mich vor das Klavier und tippe die Tasten an. Alexander freut sich – er liebt Musik. Nur leider kann ich gar nicht spielen und so vertröste ich ihn auf später. Mathilda wird ihr Konzert später exklusiv für uns spielen, erzähle ich ihm.
Es klingelt, Tim ist da. Alexander quietscht vor Freude, denn er weiß jetzt nimmt sich wieder jemand viel Zeit nur für ihn und macht nicht noch 1000 Sachen nebenher, so wie ich meistens. Tim legt sich zu Alexander auf das Sofa und liest ihm eine Geschichte vor und ahmt dabei alle Tierstimmen nach. Sie haben dabei großen Spaß und ich lasse mich beim spülen von ihrem Lachen anstecken. Wunderbar denke ich, wie viel Freude doch in diesem Haus ist – und wie nahe Leid und Freude doch beieinander liegen. Wie viel Leben hier herrscht – so viel intensives Leben.
14.00 – 15.00 Uhr
Die Spielstunde mit Tim war ganz schön aufregend für Alexander. Er ist ganz schön schlapp danach. Aber er hat ein wundervolles Lächeln im Gesicht. Alexander ist ein großartiger Junge. Er ist so stark und obwohl er in seinem Körper so gefangen ist, schafft er es seinen Willen gut durchzusetzen. Wenn ihm etwas nicht gefällt oder er jemanden nicht mag vermag er dies genauso auszudrücken, wie wenn er gerade etwas ganz Schönes erlebt. Diese Freude ist dann so unverfälscht und offenbar, dass er jeden um sich herum gewinnt und mit seinem Lächeln ansteckt. Alexander kann zwar nicht mit den Menschen sprechen, aber er beobachtet sie ganz genau und manchmal glaube ich, eben weil er nicht auf die gewohnte Art z.B. mit Sprache kommunizieren kann, dass er die Menschen viel intensiver wahrnimmt – es ist manchmal als würde er sie durchschauen. Ich entdecke an ihm so viele Fähigkeiten, die mich einfach oft erstaunen, begeistern und stolz machen. Mein wunderbarer Schatz – mein kleiner, großer Junge.
Zwei Termine nach der letzten Nacht sind eigentlich auch ganz schön viel, aber es ist einfach so wunderbar zu sehen wie er sich freut. Man hat immer dieses Problem die Waage ins Gleichgewicht zu bringen – man macht sich natürlich viele Sorgen und will nichts riskieren, was Alexander womöglich schaden könnte, aber man möchte ihm auch an möglichst vielen schönen Dingen teilhaben lassen und ihm alles ermöglich, was noch gut geht und ihm am Herzen liegt. Bei mir steht immer das ganze Alltagsprogramm an, so daß ich manchmal glaube, wenn Alexander nicht in der Schule sein kann wird es ihm auch einfach zu langweilig mit seiner Mama allein daheim. Er äußert das ja auch und fordert dann meine volle Aufmerksamkeit ein. Leider geht das aber nicht immer ungeteilt – auch wenn es mir wichtiger wäre. So ganz lässt sich das Notwendige nicht ausblenden und wenn unser anfälliges System nicht rund läuft, fürchte ich gehen wir ganz verloren. Es gibt ja auch ohnehin schon genug Überraschungen die unsere Flexibilität auf ein Höchstmaß ausreizen. Auch wenn man lernt damit umzugehen und daran wächst – unser Alltag ist und bleibt eine Herausforderung. So rächt sich jetzt auch, dass ich Wäsche und Post ignoriert habe am Vormittag. Gleich kommt Mathilda nach Hause – bis dahin sollte ich noch etwas geschafft haben.
15.00 – 16.00 Uhr
Mathilda kommt nach Hause. Alexander freut sich sichtlich – er freut sich immer, wenn Mathilda nach Hause kommt. Sie haben eine sehr innige Verbundenheit und so setzt sie sich auch als erstes zu ihm und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. Aufgeregt frage ich sie wie es gelaufen ist. Sie sprudelt los wie ein Wasserfall – was eher ungewöhnlich ist. Bekomme ich auf die Frage wie der Tag war, doch meistens nur noch bruchhafte Wortfetzen aus denen sich nicht wirklich etwas entnehmen lässt. Ich schreibe es der Pubertät zu, weiß aber dass sie natürlich unter der ganzen Situation sehr leidet. Sie leidet unter der wenigen Aufmerksamkeit, sie leidet mit ihrem Bruder den sie über alles liebt, sie leidet darunter, dass bei ihr meist keiner übernachten wollte, sie leidet darunter wie wir leiden und sie leidet darunter, das bei uns vieles einfach nicht möglich ist. Urlaub zum Beispiel. Es gab einen Urlaub vor 3 Jahren, da durften wir ins Hospiz fahren. Alexander konnte dort entsprechende betreut werden und wir uns als Familie alle mal etwas erholen. Das war schön. Aber es ist eben auch ein Hospiz. Man lernt andere tolle Familien kennen – Menschen, die einem ans Herz wachsen. Zu sehen und mitzubekommen dass es auch ihnen nicht gut geht und manchmal sogar noch viel schlechter belastet auch.
Mathilda hat fehlerfrei gespielt. Alle haben tosenden Applaus gegeben und sie konnte ihre Nervosität mit Beginn des Spiels sofort vergessen. Ich umarme sie innig. Ich bin so stolz auf Dich sage ich zu ihr und dass ich sie über alles liebe flüstere ich ihr ins Ohr. Wie leid es mir tut, dass ich nicht dabei sein konnte weiß sie ohnehin.
Es klingelt. Alva ruft Mathilda begeistert. Alva betreut uns als Familienbegleiterin schon seit fast 4 Jahren und ist eine Seele von Mensch. Sie war in der bislang schwierigsten Zeit, als wir uns nur im Krankenhaus abwechselten, mein Mann und ich, für Mathilda eine unglaubliche Stütze. Sie war da, regelmäßig und kam wieder, hörte zu, unternahm etwas mit Mathilda, schenkte ihr Zeit. Zeit in der es wirklich nur um Mathilda ging. Das hat ihr so gut getan und war wichtig – auch für uns. Zu wissen, dass jemand übernimmt, etwas was wir gerade nicht im Stande sind zu geben – etwas was wir einfach nicht leisten konnten, aber was ungefragt das Wichtigste ist für Kinder – ihnen Zeit zu schenken.
Heute gehen sie zum Yoga. Das hatte sich Mathilda gewünscht und es ist schon ewig geplant. Sie möchte das unbedingt ausprobieren, aber nicht allein. Alva macht das schon seit Jahren. Alexander und ich müssen uns also mit unserem exklusiven Konzert noch gedulden, aber das machen wir gern. Ich zumindest. Alexander sicher weniger.
16.00 – 17.00 Uhr
Wo ist der Tag nur hin. Es ist schon wieder fast Abend und ich habe noch immer keine Idee, wie ich das Abendessen gestalten soll. Ich rufe Frank an – er muss einkaufen auf dem Heimweg. Ich schaffe es einfach nicht und habe niemanden der bei Alexander bleiben kann. Auch wenn es ihm nun besser geht. Bis ich ihn alleine fertig gemacht habe und in den Rollstuhl gesetzt, vergeht gut und gerne so viel Zeit wie ich insgesamt zum Einkaufen bräuchte. Und dann das Ganze noch retour.
Frank drückt mich weg, aber ich bleibe hartnäckig. Er drückt mich wieder weg. Ich schreibe eine WhatsApp ohne Umschweife: „Du musst noch einkaufen, ich schaff das nicht – der Kühlschrank ist leer.“ Keine Reaktion.
Ich sehe mich schon Alexander anziehen und bei dem Gedanken möchte ich verzweifeln. Es ist wirklich anstrengend und ich habe kaum noch Kraft heute nach der viel zu kurzen Nacht und dem schon wirklich langem Tag. Mathilda könnte ich schicken, aber ich will ihr nicht schon wieder etwas aufbürden, zumal ich schon nicht zum Konzert konnte. Allerdings ist es auch nur ein Einkauf – keine Marsexpedition. Dennoch möchte ich nicht, dass sie schon wieder etwas übernehmen muss.
Das Handy piept. Frank schreibt zurück: “Ich bin noch mitten in den Verhandlungen für den neuen Auftrag. Es sieht gut aus. Ich werde aber sicher später kommen – denke nicht vor 10.“ Das ist ebenfalls sehr klar. Ich möchte schreien. Immer hängt alles an mir. Ich weiß, er ist der Hauptverdiener und wir sind darauf angewiesen seit ich nicht mehr arbeiten kann. Ich weiß auch, wie wichtig dieser Termin ist, aber ich weiß jetzt gerade vor allem, dass ich fix und fertig bin und die Aussicht den Abend alleine bestreiten zu müssen mich gerade verzweifeln lässt.
Und der Kühlschrank – der ist noch immer leer.
17.00 – 18.00 Uhr
Ich rufe Mathilda auf ihrem Handy an. Entschuldigend – wieder einmal – frage ich wann sie ungefähr zurück sein wird, damit sie ein Auge auf Alexander haben könnte, damit ich noch einkaufen gehen kann. Erstaunlicher Weise überhaupt nicht genervt, trällert sie fröhlich ins Telefon sie wären schon auf dem Rückweg und es wäre gar kein Problem. Yoga bewirkt Wunder, denke ich mir und bin gleichzeitig erleichtert, hatte ich doch so viel Sorge schon wieder einen Gefallen erbitten zu müssen.
Für mich ist es ebenfalls eine Wohltat, dieses Alltagsproblem so lösen zu können – habe ich heute noch nicht einmal die Wohnung verlassen, freue ich mich jetzt auf diese 20 Minuten Einkauf, als würde ich in den Wellnessurlaub starten.
Alleine einkaufen, niemand der etwas von mir möchte, braucht, mich etwas fragt. Nicht gänzlich ohne Zeitdruck laufe ich durch die Regale des Supermarkts, aber trotzdem freue ich mich über diese paar Minuten. Ich wähle aus, ich vergleiche – nicht nur hastiges in den Wagen werfen, um möglichst schnell wieder zurück zu sein. Aber was koche ich eigentlich. Da ist sie wieder – die Diskrepanz zwischen möglichst gesund und bitte schnell, denn die Zeit läuft ja unaufhörlich weiter davon. Manche Gerichte kommen einfach nicht in Frage, da sie selbst püriert für Alexander schwer zu essen sind.
An der Käsetheke treffe ich eine ehemalige Nachbarin. Sie grüßt freundlich und fragt überschwenglich wie es mir geht. Kaum ausgesprochen verstummt sie und hält inne und entschuldigt sich fast. Sie habe von Alexanders Zustand gehört und dann weiß sie auch schon nicht mehr weiter. Es ist ihr sichtlich unangenehm. In der Hoffnung sie aus dieser misslichen Lage zu befreien antworte ich – gut geht’s es uns. Alexander ist schon länger stabil – das ist so unglaublich großartig. Sie schaut mich mit großen Augen an. Ich glaube ich habe sie noch mehr verwirrt. Ja, es geht uns gut – auch wir können das sagen und wenn es schon mal so ist, sage ich das auch besonders gerne. Denn es ging uns auch schon deutlich schlechter. Manchmal denke ich erwarten alle um uns herum, dass wir stetig traurig sind und alles ganz, ganz schlimm ist. Es ist auch alles ganz, ganz furchtbar – ja es ist eigentlich überhaupt nicht annehmbar, dass gerade ich mein Kind verlieren soll. Aber noch ist es da, noch lebt es und erlebt es vor allem das Schöne am Leben und das möchten wir alle gemeinsam. Es wird sie kommen die Zeit der Trauer – leider unvermeidlich, aber jetzt ist sie noch nicht, jetzt soll sie noch nicht und jetzt lassen wir sie auch einfach noch nicht die Oberhand gewinnen. Jetzt ist die Zeit des Lebens.
18.00 – 19.00 Uhr
Wieder daheim geht es direkt weiter, jetzt schnell alles aufräumen und dann will das Abendessen vorbereitet werden. Mathilda ist genervt – sie hatte sich ihr Konzert so vorgestellt, dass ich mit Alexander auf dem Sofa sitze und aufmerksam lausche. Leider muss ich sie enttäuschen – Alexander ist schon unruhig und ich hoffe, dass ihr Spiel ihn ein wenig beruhigt, bis ich fertig bin mit dem Essen.„Du hast es versprochen, Mama“ Ja, das habe ich, aber wie so oft lief der Tag anders als geplant und die Zeit rannte unaufhörlich davon. Nun bin ich schon wieder zu spät dran und habe noch immer so viele Dinge auf meinem Plan. Für morgen ist noch gar nichts vorbereitet. Mal wieder ist jemand enttäuscht, weil Hoffnungen nicht erfüllt werden, weil sich die Dinge einfach allem anpassen müssen, nur nicht den eigenen Vorstellungen.
Mathilda spielt trotzdem, ich stehe in der Küche. Die wunderschönen Melodien beruhigen. Alexander hört aufmerksam zu. Ich platze auch jetzt vor Stolz. Sie spielt wunderbar. Die Musik füllt den ganzen Raum, füllt unsere Wohnung, unsere Herzen, legt sich als beruhigender Balsam auf unsere Seelen. Der ganze Stress fällt gerade von mir ab und ich bin ganz bei mir. Als Mathilda aufhört gehe ich zur ihr und gebe ihr einen innigen Kuss auf die Stirn und umarme sie. „Danke“, sage ich zu ihr. Ich bin dankbar, für alles Schöne was wir haben und wie jeder einzelne dafür kämpft. Ich bin dankbar dass wir die Kraft haben zu kämpfen und dass wir die nötige Hilfe bekommen, kämpfen zu können. Wichtige Begleiter haben sich auf unserem Weg zu uns gesellt, die uns stützen und stabilisieren in Momenten in denen die Kraft ausgeht. Dank dieser Hilfe sind wir in der Lage aus Momenten wie eben diesem gerade wieder neue Kraft zu schöpfen.
Es ist nicht einfach gewesen zu erkennen, dass man in bestimmten Bereichen Hilfe braucht. Noch weniger einfach, dass man diese Hilfe aktiv sucht und annimmt. Seit wir das überwunden haben sind wir einfach nur dankbar und sehr viel stärker.
19.00 – 20.00 Uhr
Endlich sitzen wir am Tisch und essen. Eigentlich wäre ich jetzt schon gerne fertig gewesen und hätte den morgigen Tag vorbereitet und alles für die Nacht. So sitze ich aber am Tisch, füttere Alexander und stelle Mathilda Fragen über ihren Tag. Meine Gedanken kreisen, was alles zu tun ist morgen, ob Alexander wieder in die Schule kann, was alles ansteht…
Eigentlich kein Wunder, dass Mathilda nur mit Mhh, Ja, mal sehen, und ähnlich kurzen Antworten auf meine Fragen eingeht. Ich bin eigentlich auch ganz woanders mit meinen Gedanken, dabei sind die Fragen ernst gemeint. Jede einzelne. Ich möchte wissen wie ihr Tag war, wie es ihr geht, aber mein Hirn ist einfach überlastet. Ich habe soviel im Kopf, dass das Zuhören einfach schwer fällt. Es erübrigt sich auch. Mathilda hat gar keine Lust über ihren Tag zu sprechen.
Es ist einfach wieder viel zu spät geworden und damit ist der Raum für diese Gespräche genommen. Sie hatte einen vollen Tag und ist müde. Ich hatte einen vollen Tag und habe morgen einen vollen Tag, den ich noch planen muss und rede zwar, kann aber nicht mehr zuhören.
So ist es leider viel zu oft, dass wichtige Dinge zu kurz kommen, weil die notwendigen Dinge eben so notwendig sind. Manchmal denke ich mir, es ist unglaublich wieviel Zeit wir verschwenden – also ob davon unbegrenzt viel da wäre. Statt uns auf das wirklich Wichtige zu konzentrieren, lassen wir uns von den notwendigen Dingen manchmal einfach die Zeit zum Leben rauben. Dabei wissen wir doch ganz genau, dass es begrenzt ist und dass das einfach so passieren kann. Jedem und jederzeit. Allein der Alltag ist mächtig genug uns dieses Bewusstsein immer mal wieder zu stehlen. Der notwendige Alltag. Ein Segen und ein Fluch. Lenkt er oft doch auch ab und tut gut – der ganz normale Alltag, der uns wie alle anderen auch auf Trab hält und damit auch zeigt, dass wir nicht anders sind.
20.00 – 21.00 Uhr
Alexander in seinen Schlafanzug zu bringen ist ein echter Kraftakt geworden. Ich fürchte schon, dass mein Rücken demnächst rebelliert – das wäre ein Desaster.
Sein Spezialbett steht direkt neben unserem und damit besteht das Schlafzimmer eigentlich nur noch aus Bett. Ich lege mich dazu und lese noch eine Geschichte vor. Heute von einer Abenteuerreise eines Bergsteigers. Wenn wir schon nicht reisen können, dann wenigstens in unseren Gedanken. Wie passend, kommt mir unser Leben auch manchmal wie ein großer unüberwindbarer Berg vor, den wir nicht schaffen zu erklimmen. Diese stille Zeit am Abend vor dem einschlafen genieße ich. Diese Zeit muss sein und ich versuche mir sie wirklich immer zu nehmen. Früher haben wir noch gekuschelt, heute ist das Alexander oft zu nah. Er wird nun auch ein Teenie. Mama wird uncool. Ich werde mich nie daran gewöhnen. Alexander schläft schnell ein – die letzte Nacht fordert ihren Tribut.
Ich bin auch so hundemüde, dass ich schon beim Lesen kaum meine Augen offenhalten konnte. Wie gerne würde ich jetzt einfach liegen bleiben und schlafen. Aber die Küche muss noch aufgeräumt werden – schon wieder. Die Schulbrote für Mathilda wollen vorbereitet sein und und und…alles was ich am Morgen nicht zu erledigen habe hilft. Der ewige Kreislauf.
Ich küsse Alexander auf die Wange und erhebe mich schweren Herzens aus dem Bett. Ich habe keine Lust, ich bin einfach nur müde. Aber das steht außer Frage – ich muss, sonst werde ich es morgen in der Früh bereuen. Irgendwann, wenn Frank mal einen Tag Urlaub nehmen kann werde ich schlafen – einfach den ganzen Tag nur schlafen. Ich muss über mich selber lachen bei dieser Vorstellung. Weiß ich doch, dass dieser Tag so nie kommen wird.
21.00 – 22.00 Uhr
Ich gehe noch zu Mathilda – die sich natürlich selbst fertigmacht und längst zurückgezogen hat. Ich klopfe an ihrem Zimmer – keine Antwort. Der Tag hat offensichtlich auch sie geschafft, sie ist schon eingeschlafen. Ich streiche ihr über ihre Haare und ihr Gesicht. So friedlich sieht sie aus. Ich würde ihr gerne gerade so viel sagen. Wie stolzich auf sie bin, wie dankbar, dass sie alles so gut mitmacht und wie leid es mir tut, dass sie ständig zurückstecken muss. Als Geschwisterkind eines schwer kranken Kindes spielt man dauerhaft die zweite Geige. Dass ist alles andere als leicht. Hinzukommt der eigene Schmerz und die Trauer über die Krankheit des Bruders. Mathilda musste mit der Diagnose so schnell erwachsen werden. Von heute auf morgen waren wir mehr oder weniger nur noch im Krankenhaus und als Ansprechpartner kaum mehr verfügbar. Sie musste so schnell selbstständig werden und sich mit der auch für sie schwierigen Situation umgehen lernen. Das war und ist ein steiniger Weg. Auch sie musste die Erfahrung machen, dass nicht jeder mit diesem Schicksal umgehen kann. Freunde kamen nicht mehr zu uns nach Hause, ihr fehlten Ansprechpartner. Dies kam noch belastend hinzu. Es sind so viele Tränen geflossen und wir mussten, ohnmächtig etwas zu ändern, diesen Weg mitgehen. Bis wir etwas änderten – alle gemeinsam. Man kann nichts wieder gut machen, aber man kann sich auf das was ist konzentrieren und da ist oft vieles ganz schön gut. Daraus ziehen wir nun unsere Kraft.
Kraft – Kraft die ich nun gerade benötigen würde, um mein Abendpensum noch zu schaffen. Irgendwie fehlt sie mir gerade, aber es hilft nichts. Also Ärmel hochkrempeln und weiter geht’s. Spülmaschine ausräumen, Spülmaschine einräumen. Wäsche in die Maschine. Brote schmieren. Hausaufgabenheft durchsehen.
Frank müsste bald kommen. Vielleicht schaffen wir es heute wenigstens noch ein paar Worte zu wechseln. Es gab Zeiten in denen wir uns wochenlang nur die Klinke in die Hand gegeben haben und gar nicht mehr miteinander gesprochen haben. Über Notizen, Mails und WhatsApp Nachrichten brachten wir den anderen auf den aktuellsten Stand. Das hält keine Beziehung lange aus – irgendwann hat man sich soweit voneinander entfernt, dass man gar nicht mehr weiß, was man eigentlich noch sagen soll.
22.00 – 23.00 Uhr
Frank kommt nach Hause. Ich bin erleichtert – obwohl alles erledigt ist, fühlt es sich immer wieder gut an, mit dem Ganzen nicht alleine zu sein.
Er redet wie ein Wasserfall. Was so ein wenig Sozialleben bewirkt, denke ich mir. Ich habe nichts zu berichten und ehrlich gesagt, selbst wenn, ich wäre zu müde irgendwas zu sagen. „Wie war Mathildas Konzert?“ fragt Frank. Ich lache auf – ist das sein Ernst? „Frank, ich habe keine Ahnung – wie hätte ich hingehen sollen?“ Ich werde wütend. Was denkt er eigentlich was ich den ganzen Tag mache – Alexander konnte nicht in die Schule, ich habe ihn sogar angerufen und um Hilfe gebeten wegen des Einkaufs. Manchmal frage ich mich wirklich, ob wir in dem selben Leben zuhause sind.
Er entschuldigt sich sofort, als er sieht, dass mir die Tränen in die Augen schießen. „Was denkst du dir eigentlich?“ frage ich Frank. „Was meinst du wie es sich anfühlt, nie da sein zu können für seine Kinder so wie man es gerne möchte?“ Was denkt er sich eigentlich. Alles hängt an mir. Alles. Ich würde auch gerne einfach morgens das Haus verlassen – es wäre so einfach, aber ich kann das nicht. Ich nicht.
Ungerecht – ich weiß es rational, aber im Alltag vergisst man das. Auch er leidet enorm unter der Situation. Anders als ich, aber er leidet. Er kämpft. Er versucht alles, damit sich unser Leben weiterdreht. Er arbeitet und kämpft, er trauert und er vermisst, er macht Kompromisse und er ist ein guter Vater, aber manchmal kann ich das alles weder sehen, noch empfinden, weil ich mich so alleine fühle – wie gerade bei der Frage, wie Mathildas Konzert war. Das bringt dann alles zum überlaufen, ich werde emotional – ungerecht.
Im gleichen Moment tut es mir leid, ich entschuldige mich. Schon wieder. Ich frage wie sein Tag war. Frank hat es mittlerweile, vielleicht sogar aus Selbstschutz verstanden, dann nicht weiter nachzufragen und er erzählt. Er erzählt von seinem Tag – er hat den neuen Kunden und damit den Auftrag gewonnen, was großartig ist, denn es bringt auch für uns, da wir nur mit einem Alleinverdiener unser Leben bestreiten Sicherheit. Er erzählt und erzählt – und nicht, weil es mich nicht interessieren würde, einzig weil ich so unendlich müde bin, kann ich ihm nicht mehr folgen und nehme kaum noch wahr, was er sagt. Eigentlich möchte ich nur noch schlafen. Aber jetzt haben wir mal Zeit füreinander – sonst nie. Das macht mir die Dringlichkeit bewusst wach zu bleiben. Auch wenn ich kaum noch folgen kann, was mir wahnsinnig leidtut – er ist da, jemand hört vermeintlich zu. Zeit zu zweit – man kann das unterschiedlich definieren. Keine Zeit zu zweit wäre trotzdem schlimmer.
23.00 – 24.00 Uhr
Trotz Müdigkeit feiern wir Franks Erfolg ein wenig. Wir trinken ein Glas Wein und nehmen uns diese Zeit jetzt ganz bewusst füreinander. Sind wir glücklich frage ich in den Raum. Frank hält fest meine Hand und antwortet – „wir sind zusammen, alle vier und wir sind voller Liebe“. Ich seufze. Ich würde es auch nicht verneinen, aber ich kann es auch nicht einfach so stehen lassen. Wären wir doch nur auch alle gesund. Und wären wir alle gesund, wünschten wir uns etwas anderes. Glück liegt wahrscheinlich nur darin es zu zulassen. Es zu akzeptieren und anzunehmen, dass in allem vermeintlichen Unglück auch so viel Glück liegen kann.
Früher habe ich möglichst weit Voraus geplant, wollte gerne alles immer möglichst gut vorbereitet wissen und am besten heute schon planen, wie es in 3 Jahren sein sollte. Alexanders Diagnose hat mich davon geheilt. Was nutzt es das Übermorgen zu planen, wenn das Morgen gar nicht sicher ist und man dabei vor allem das Heute nicht mehr wahrnimmt.
Wir werden sterben. Nicht nur Alexander. Der einzige Unterschied ist, dass wir bei ihm mit der Diagnose dieses Bewusstsein um die Ohren gehauen bekommen haben und des wird früher sein als wir es jemals geglaubt haben. Aber heute leben wir, jetzt leben wir und manches hat vielleicht gar keine Zeit bis morgen.
Gerade bin ich glücklich. Jetzt und hier im Arm von Frank mit unseren zwei wunderbaren Kindern in den Zimmern nebenan. Und Morgen? Morgen ist ein neuer Tag. Jetzt hoffe ich auf eine stille Nacht und möglichst viel Schlaf.