Simons Motto: „Mit Humor ist das Leben etwas leichter“
Als Simon die 4. Klasse besuchte, war es sein Wunsch, mit seinem besten Freund nach der Grundschule aufs Gymnasium zu gehen. Er schaffte es ohne große Probleme und mir wurde schnell klar, er müsse dann erst mal lernen, was Lernen bedeutet. Deshalb wäre es mir als Mama lieber gewesen, er hätte sich für einen leichteren Weg entschieden. Zu der Zeit ahnte ich noch nicht, wie schwer Simons Weg noch werden würde.
Simon war ein wirklich fröhliches und quirliges Kind, das am liebsten draußen unterwegs war. Er lachte gern und viel und liebte es, wenn wir in den Bergen unterwegs waren. Unsere letzte längere Wanderung verlief auf dem Wendelstein bis zur Mittelstation. Es war im Herbst 2014 und wir mussten ihm versprechen, beim nächsten Mal bis ganz nach oben zu wandern, denn an dem Tag war es schon etwas zu spät. Es sollte allerdings stark bergab gehen. Wir sollten so tief fallen, wie man es mit Worten kaum beschreiben kann.
Im November 2014 verschlechterte sich Simons Allgemeinzustand plötzlich sehr schnell. Angefangen mit episodischen Kopfschmerzen. Zu viel Stress in der Schule, vielleicht Migräne? Als nach drei Tagen seine Schmerzen heftiger, er zunehmend müde wurde und sich auch übergeben musste, bekamen wir eine Überweisung ins Krankenhaus. Am nächsten Tag brachte ein MRT Klarheit. Ein Tumor mit einer Größe von 7 cm am Thalamus. Es wuchs also etwas in Simons Kopf heran, was immer mehr Platz verlangte und Druck ausübte. Simon wurde so müde, dass er nicht mehr kooperieren konnte.
Mit Medikamenten konnte anfangs der Druck reduziert werden und Simon ging es soweit besser, so dass keine Notwendigkeit mehr bestand, externe Ableitungen aus seinem Kopf zu legen, weil sich das Liquor staute. Die OP musste gut geplant und vorbereitet werden. Als das OP-Datum feststand und alles dafür vorbereitet war, musste diese um einen Tag verschoben werden, wegen eines defekten Gerätes. Simon wirkte stabil und somit war es vertretbar. Für uns war es okay.
Die Ungewissheit nach der Operation
Wir hatten Angst, weil natürlich keiner wusste, wie es Simon nach der OP ergehen würde. Einen Tag länger warten, war dann doch nicht möglich. Nachts verschlechterte sich Simons Zustand so sehr, bis schließlich das Notfallteam in unser Zimmer stürmte. Nach einer sehr langen OP in einer benachbarten Klinik dann die Nachricht: „Die OP ist gut verlaufen, d.h. alles an sichtbaren Tumorgewebe konnte entfernt werden. Jetzt heißt es nur abwarten, ob ihr Kind wieder aufwacht.“ Ich werden diesen, genauso wenig wie so viele andere Horrormomente, nie mehr vergessen. Das Schlimmste daran ist nicht allein der Gedanke, sondern, dass man es immer wieder fühlt.
Simon hatte sich so oft für andere eingesetzt und stark gemacht, jetzt musste er für sich kämpfen. Als er aus dem Koma erwachte, kam die Nachricht über den histologischen Befund: Glioblastom WHO IV, sehr aggressiv und unheilbar, für Kinder eher untypisch. Prognose der Überlebenszeit vielleicht 2 Jahre, vielleicht 1 oder nur ein halbes.
Ein Gefühl der Leere, des Schmerzes, alles ist wie taub, alles zerbricht. Man fällt und fällt ganz tief. Ganz unten angelangt, gibt es nur noch einen Weg wieder nach oben. Wir wollten nicht unten liegen bleiben. Für unsere Kinder. Simon hat noch eine zwei Jahre ältere Schwester. Wie sollte sie denn damals damit klarkommen? Schließlich wollten wir auch, dass Simon lebt. Wir griffen nach den dünnsten vertrockneten Grashalmen und machten uns vor, es wären Äste. Genauso war es für uns wichtig. unseren Humor wieder zu finden und zu erhalten. Ich machte mir Sorgen, dass Simon uns sonst nicht mehr erkennt oder keinen Grund sieht wieder aufzuwachen.
Wieviel Wahrheit erträgt ein Zehnjähriger?
Die erste Reaktion zeigte sich bei Simon, als ihn seine Schwester auf der Intensivstation besuchen durfte. Die Zwei hatten schon immer eine recht enge Bindung zueinander. Simon kämpfte hart und mit Erfolg. Er wachte auf, musste allerdings so ziemlich alles neu lernen. Das bedeutet, es musste durch viel Übung neu reaktiviert werden. Sein Blick war lange starr und er wirkte sehr emotionslos. Hauptsächlich machte sich Wut bemerkbar. Wir waren immer an seiner Seite und haben mit ihm gekämpft. Manchmal war es sehr hart, meist probierten wir es spielerisch und vor allem mit Humor.
Es folgten eine Bestrahlungs- und Chemotherapie nach einer Studie. Sein Zustand verbesserte sich deutlich. Somit kam auch die Zeit der Fragen. Er erinnerte sich, dass alles mal anders war und er vieles schon konnte. Er fragte, was mit ihm los sei. Bis zu diesem Tag habe ich immer wieder nachgedacht, wie ich ihm alles erklären soll. Wieviel Wahrheit erträgt ein zehnjähriges Kind? Was sage ich, wenn er fragt, ob er wieder gesund wird? Meinem Mann und mir war immer klar: keine Lügen. Was Simon fragte, beantwortete ich ihm also. Stück für Stück, über einen gewissen Zeitraum, bis er schließlich alles erfahren hat.
Das Schönste in der Zeit war, dass Simon schnell seinen Humor wiederfand und auch nicht mehr verloren hat. Für ihn war und ist klar, Krebs mag keine Freude oder glücklichen Momente. Ganz klar, was für uns ganz oben steht im Leben. Durch seine Erkrankung wurde Simon in vielen Aktivitäten eingeschränkt, manches fällt einfach viel schwerer oder macht schnell müde. Alles kostet ihn viel Kraft. Für längere Strecken benötigt er einen Rolli und zur Schule geht er inzwischen mit einem Schulbegleiter bis zu vier Stunden täglich. Er hat sich nie entmutigen lassen und so auch viele neue Talente entdeckt. Er malt wunderschöne Acrylbilder, hat ein Buch geschrieben. Es ist eine Fantasiegeschichte, in der in jedem Wesen ein Teil von ihm steckt. Es gibt immer wieder neue Projekte, die er in Zusammenarbeit mit seiner Psychologin macht. Das gibt ihm Kraft und macht viel Freude. Früher waren Bücher überhaupt nicht seine Freunde, heute liest er sehr viel.
Die Unterstützung des AKM ist ein großes Glück
So veränderte sich unser Leben. Es ist nicht leicht, aber trotzdem schön. Wir haben Unterstützung und tolle Menschen an unserer Seite. Auch das AKM. Das ist großes Glück. Sie waren einfach da und anfangs dachte ich, sie können uns eh nicht helfen. Ich dachte es laut und trotzdem kamen sie immer wieder. Für diese liebevolle Hartnäckigkeit und vertrauensvolle Unterstützung seit über vier Jahren, sind wir als Familie sehr dankbar.
Großes Glück ist genau gesehen auch, dass wir bei der schlechten Prognose mit Simon vier gemeinsame Jahre hatten – ohne ein Rezidiv. Das können wir allerdings nicht so einfach annehmen. Es schmerzt zu sehr. Die Angst ist zu groß. Im November 2018 ergab eine Routinekontrolle ein Rezidiv. Eine OP erfolgte im Dezember und eine erneute Bestrahlungs- und Chemotherapie hat Simon auch schon geschafft. Vor Beginn der Bestrahlung wurden erneut zwei kleine Punkte entdeckt. Genauer betrachtet wieder mal großes Glück, denn somit konnte der Bestrahlungsbereich entsprechend rechtzeitig angepasst werden.
Gefühlt sind wir dem Abgrund wieder näher. Nach dem heutige Therapiestand steht nicht die Frage ob, sondern wann der Tag kommen wird, an dem wir noch tiefer fallen als bisher. Simon hat Träume und genaue Ziele. Er möchte im Sommer wieder ins Waldpiratencamp. Er wünscht sich allgemein mehr Austausch und feste Kontakte zu Gleichgesinnten. Wir werden definitiv weiter kämpfen und das, so gut es geht, mit Humor. Dann ist das Leben etwas leichter!
Achtsam, kraftvoll, mutig
A = ACHTSAM
Heutzutage befinden wir uns alle in einer sehr schnelllebigen Zeit und dadurch wird vieles sehr oberflächlich. Es zählt vor allem Leistung und alles, was Geld bringt. Ich denke, dabei wird oft vergessen, was Leben wirklich bedeutet. Kinder können ein sehr gutes Vorbild sein und man kann sich von ihnen anstecken lassen. Die Welt bewusst betrachten und mal mit den Augen der Kinder seine Umwelt wahrnehmen. Durch unser Schicksal gehen wir sicher nochmal bewusster durchs Leben. Jeder sollte allerdings achtsam durchs Leben gehen und dabei auch auf sich achten, sich selbst treu bleiben.
Simon kann dies sehr gut. Er hat ein super Gespür für Dinge, die ihn positiv beeinflussen und wann etwas zu viel wird. Es gibt Tage oder Momente, an denen unsere Gedanken mal wieder zu negativ geprägt sind und wir dadurch Positives nicht mehr erkennen. Dann fühlt sich unser Rucksack, den wir ständig mit all den Sorgen mit uns tragen, noch schwerer an. Daher ist für uns psychologische Begleitung sehr wichtig. Manchmal reicht es einfach alles regelrecht auszuheulen, damit wieder Platz für Schönes ist.
Ein anderes Mal ist es notwendig, uns Wege aus der Angst zu zeigen. Wir versuchen bewusst, gewissen schönen Momenten viel mehr Beachtung zu geben. Wir haben gelernt, auch nur die kleinsten Dinge im Leben zu schätzen. Es ist jeden Tag möglich, Glück zu empfinden. Simon hat einmal gesagt, dass es an jedem Tag (egal wie mies er war) etwas Schönes gibt. Man muss nur genau hinschauen und es dann festhalten. Er hält es in seinen Tagebüchern fest.
K = KRAFTVOLL
Simon hat sehr viel Kraft bewiesen innerhalb der letzten vier Jahre. Auch heute nach seinem Rückschlag kämpft er weiter. Er weiß sehr genau, was seine Erkrankung bedeutet und er hat große Angst, dennoch lässt er sich nicht davon unterkriegen. Jeden Tag begegnet er mit mal mehr und mal weniger Humor. Simon weint eher selten. Die Tage, wo er sehr viel Ablenkung / Aufmunterung braucht, kosten extrem viel Kraft. Wir führen auch immer wieder mal Gespräche (hauptsächlich Simon und ich) über den Tod und was danach kommt. Er hat eine ziemlich genaue Vorstellung. Im Himmel ein großes Haus auf den Wolken und er ist dort nicht allein. Angst vor dem Tod hat er daher keine, aber davor, dass wir nicht mehr bei ihm sind und vor dem Weg dorthin. Für uns klar: da es im Himmel weder Schmerz noch Leid gibt, gibt es auch keine Zeit. Simon kann uns somit gar nicht vermissen.
Es kostet immer wieder Kraft, sich diesen Ängsten zu stellen, ohne dabei als Mama zu zerbrechen. Dennoch finde ich es sehr wichtig, über die Dinge mit Simon zu sprechen, die ihn beschäftigen. Als Eltern versuchen wir immer, ihn so gut es geht zu unterstützen. Meist gelingt es zum Glück ganz gut, aber an manchen Tagen fehlt einfach auch uns die Kraft. Wie auf Knopfdruck sind Gedanken da, die einen regelrecht körperlich und seelisch lahmlegen. Es passiert einfach so. Dann geben uns Menschen Kraft, wie unsere Anna vom AKM. Sie hat manchmal ein fast mystisches Gespür dafür, wenn es uns nicht so gut geht.
M = MUTIG
Der Wahrheit gegenüberzustehen wäre mutig, wenn man die Möglichkeit hätte, ihr auszuweichen. Allerdings braucht es manchmal viel Mut, wenn wir z.B. den Ärzten Fragen stellen, mit dem Bewusstsein, dass es eine Antwort geben könnte, die uns nicht gefällt. Mutig sein bedeutet für uns, sich unseren Ängsten zu stellen. Zumindest hat dies einen sehr großen Stellenwert seit vier Jahren in unserem Leben. Es kostet zum Teil heute noch sehr viel Überwindung, negative Gedanken und Ängste laut auszusprechen. Die Erfahrung hat allerdings gezeigt, dass es nicht förderlich für unser Familienleben ist, wenn jeder einzeln immer nur alles mit sich ausmacht. Wir stellten schnell fest, dass unsere Ängste und unsere Gedanken sehr ähnlich sind und das schafft eine gewisse Erleichterung.
Als besonders mutig sehe ich unsere Kinder. Von denen kann ich noch lernen. Simon stellte sich bereits in einer Vorlesung über Palliativmedizin den Fragen von Studenten. Seine Geschichte zu erzählen, ist für ihn fast nichts besonderes. Aber in einem großen Saal einzelne Fragen zu beantworten, ist nochmal etwas anderes mit 14 Jahren. Wie Simon mit seiner offenen und fröhlichen Art auf Menschen zugeht, ist einfach bewundernswert.
In der Zeit, als Simon auf der Intensivstation lag, wollte seine Schwester ihn einfach nur sehen. Sie war erst zwölf, aber es wurde eine Ausnahme gemacht. Wir bereiteten sie mit Erzählungen und auch mit Fotos vor. Als sie am Bett ihres Bruders stand, mit all den Schläuchen und Kabeln, nahm sie einfach seine Hand und hielt sie fest. Sie hatte keinerlei Berührungsangst. Sie war einfach selig. Es gibt Freunde und Bekannte, die sich ebenso unseren Ängsten stellen, obwohl es für sie nicht leicht ist. Oft trauen sie sich nicht, Dinge anzusprechen, nachzufragen, wie auch immer. Ich kann jeden nur dazu ermutigen, Gespräche zu suchen. Es erfordert sicher eine gewisse Sensibilität, dennoch ist es schlimmer nichts zu sagen. Inzwischen habe ich gelernt dies auch klar so zu kommunizieren. Ich bin allen sehr dankbar, die für uns an den schlechten Tagen einfach da sind.